Himmelsleiter mit Wartezeit am Piz Bernina (4048m)
Gut akklimatisiert und fest entschlossen diesen Sommer noch eine Hochtour unternehmen zu wollen, fiel die Entscheidung schnell etwas weiter, nämlich nach Graubünden zu fahren, als Ansgar an die UIAA-Runde diesen Sommers anregte eine Tour zu unternehmen. Am letzten Wochenende im August sollte es schönes Wetter geben und so dauerte es nicht lange, bis ich mich entschieden hatte meine Ausrüstung zu packen und in die Schweiz zu fahren. Max und ich kamen gegen 14 Uhr in Pontresina an. Begeistert von der Landschaft und den netten Bergdörfern drehten wir noch eine kleine Runde in dem kleinen Städtchen, nicht zuletzt um noch Schweizer Währung für die eventuell bevorstehende Hüttenübernachtung zu besorgen. Wir fuhren zur Diavolezza Talstation mit dem Gedanken, das Auto hier abzustellen, da wir nach der Besteigung des Piz Bernina noch eine Piz Palü Überschreitung eingeplant hatten und dann zur Diavolezza Bergstation absteigen und mit der Seilbahn ins Tal fahren wollten. Selbstverständlich alles in zwei Tagen, sodass wir den Sonntag in der Umgebung entspannt ausklingen lassen und dann die Heimreise antreten können. Wir haben in der Tourenbeschreibung gelesen, dass der Aufstieg über den Biancograt 4-5 Stunden ab der Tschiervahütte dauern würde, der Abstieg zur Marco é Rosa Hütte eine Stunde und der Abstieg mit Piz Palü Überschreitung ungefähr weitere 6 Stunden. Soweit so gut. Da wir meinten, recht fit zu sein, peilten wir den Bernina-Gipfel und Abstieg über den Piz Palü bis zur Diavolezza Seilbahn an einem Tag an. Auf der Marco é Rosa Hütte wollten wir nur dann bleiben, wenn wir unerwartet länger als geplant brauchen sollten.
Max und ich parken das Auto und gehen um 15 Uhr von der Diavolezza-Station los. Ein kurzes Telefonat mit Ansgar folgt. Er reist erst abends aus Bern an und wird erst gegen 23 Uhr bei der Tschiervahütte eintreffen. Wir vereinbaren, dass Max und ich, ausgerüstet mit Isomatten, Gaskocher und Schlafsack, einen Schlafplatz einige Höhenmeter oberhalb der Tschiervahütte im Freien für uns suchen würden, damit der Aufstieg am Folgetag kürzer sein wird. Die Tschiervahütte befindet sich bereits auf etwa 2700 Metern. Wir wollen aber weiter auf ca. 3000 Metter ansteigen und dort biwakieren. Wir erwarten dabei Temperatur von minimal 5°C währeind der Nacht.
Nach 45 Minuten erreichen wir Morteratsch. Im ersten Irrglauben zweigen wir hier Richtung Tschiervahütte gen Südwest ab. Nach einem Blick auf die Karte und einem Tipp einer uns passierenden Dame wissen wir, dass wir weiter nach Pontresina müssen, um westlich des Piz Boval, dem Val Roseg entlang ostwärts auf den Hängen zur Hütte zu gelangen. Wir starten also erst ab Pontresina um 16 Uhr, nachdem wir von Morteratsch eine Station mit dem Zug gefahren sind. Nach knapp einer Stunde erreichen wir zu Fuß den Talschluss. In der Abendsonne geht es bei warmem Sommerwetter angenehm bergauf, noch vor der Hütte machen sich erste Blicke auf den Biancograt auf. Weitere zwei Stunden und einige Höhenmeter später: die Hütte. Da es bereits 19 Uhr ist, beschließen wir uns noch etwas umzusehen und doch direkt in der Hütte zu übernachten. Das Gelände ist schroff, steinig, und nicht flach genug für einen angenehmen Schlafplatz. Wir bekommen noch Schlafplätze, bereiten uns selbst Abendessen zu, da wir uns darauf vorbereitet haben uns selbst zu verpflegen und auch dementsprechend bepackt sind und noch vor 22 Uhr liegen wir bereits im Bett. Eine halbe Stunde später steht Ansgar mit Stirnlampe am Kopf bei uns im Lager. Nach 2,5 Stunden Anstieg steht ihm eine kurze Nacht bevor, da es um 3 Uhr Frühstück gibt.
Noch vor 4 Uhr verlassen wir am nächsten Tag die Hütte, die Meisten sind bereits vor uns aufgebrochen. Die Firnflanke hinauf zur Fuorcla Prievlusa ist ausgeapert, wir steigen links über die Felsen bis zu einigen Firnfeldern auf. Noch bei Dunkelheit legen wir die Steigeisen an. Es ist ca. 5 Uhr. Ansgar und ich machen Tempo, denn nach 4 Wochen in Kirgisien, perfekt akklimatisiert und gut in Form geht es schnell voran. Max liegt etwas hinter uns, aber auch er ist nach einem Monat Ladakh gut akklimatisiert, wenn auch nicht in Höchstform. Gegen 7 Uhr erreichen wir die Scharte Fuorcla Prievlusa. Wir teilen uns den Platz mit rund 20 weiteren Bergsteigern, die alle darauf warten mit der uns bevorstehenden Kletterei zu starten. Einige Seilschaften sind bereits oberhalb – es geht langsam voran. Auch die Sonne nähert sich über den Morteratschgletscher zu uns, Zehen und Finger beginnen zu tauen. Um halb 8 Uhr schließlich geht es für uns los: Ansgar steigt die ersten Seillängen vor. Wir klettern im 2.-3. Grad, teils finden finden wir Bohrhaken, meist bringen wir an Köpfel oder Rissen selbst Sicherungen an.
Um 9 Uhr erreichen wir das erste Firnfeld und umgehen östlich einen Felsaufbau. Nun stehen wir vor der Himmelsleiter: dem Biancograt! Es ist ein klarer Tag, nur ein paar Wolken treiben tiefer, aber auch die werden sich bald auflösen. Es weht leichter Westwind und trotz Sonne bleibt der Neuschnee pulvrig bis hart. Noch ist erst der Mittagsgipfel im Auge.
Am steilen Grat steigen wir hinauf. Einige Bergsteiger, die wir zuvor in den Kletterpassagen überholt haben, machen jetzt wieder Tempo und gewinnen schnell an Abstand. Es sind jene, hinter denen wir vorm Felsgrat und der Abseilstelle vor dem Gipfel zwei Stunden warten werden. Der Aufstieg scheint länger als von unten erahnt, die Ausgesetztheit des steilen Biancogrates ist überwältigend. Um halb 11 Uhr erreichen wir den Piz Bianco – Mittag, aber ohne nennenswerte Pause entscheiden wir uns gleich weiterzugehen, da wir ohnehin bereits länger brauchen als geplant. Ab hier geht es über einige Kletterpassagen, einem markanten Felsturm und einem Steilaufschwung zum Piz Bernina. Der Gipfel scheint nahe, aber wir müssen uns gedulden, denn viele Bergsteiger warten in der Abseilstelle vorm Felsturm, einige sind mit den zu bewältigenden Schwierigkeiten der Kletter- und Abseilpassagen überfordert und sichern jeden Klettermeter. Sie verlieren Zeit, wir auch.
Nach guten zwei Stunden Wartezeit in der kalten, schattigen Nordseite des Felsgrates können wir endlich weitersteigen. Glücklicherweise haben wir unsere wärmenden Daunenjacken dabei, die wir fürs Biwak eingepackt hatten. Die nächsten Klettermeter steige ich vor, sichere mich mit ein paar Köpflschlingen so gut es geht und ab und an erhöht ein Camelot die gefühlte Sicherheit. Es ist ausgesetzte, alpine Kletterei vom Feinsten. Kletterei meist unter dem 3. Grad und gut 20 cm Neuschnee, die den Fels ein wunderschönes Schneekleid bilden, sind zu bewältigen. Bei den Abseilstellen arbeiten wir mit der vor uns liegenden Schweizer Vatersohn-Seilschaft zusammen, um Zeit zu sparen. Nach dem Felsturm klettern wir seilfrei, was mich zuerst etwas unsicher stimmt, doch ist die Kletterei im letzten Aufschwung leichter als vermutet. Auch Max wäre lieber am Seil, nicht zuletzt weil wir schon seit 10 Stunden auf den Beinen sind und noch nichts Erwähnenswertes gegessen haben. Sorgfältig klettern wir die letzten Meter zum Gipfel und um 15 Uhr erwartet uns Ansgar mit freudigem Blick. Wir sind beinahe die Letzten, nur 2 Seilschaften von unzähligen an diesem Tag werden noch nach uns auf den höchsten Punkt kommen.
Gegenseitig halten wir uns beim Hinsetzen auf dem schmalen, verschneiten Felsgrat – es gibt hier kein Gipfelkreuz und auch keinen Rastplatz. Ich lasse meine Füße in das steile Couloir gen Osten baumeln und bin glücklich. Ein Gipfelfoto und nach wenigen Minuten beginnen wir über den Spallagrat abzusteigen. Technisch leichter, trotzdem steil und ausgesetzt genug um vorsichtig zu sein, überqueren wir wieder die 4000er Marke, um die Abseilstellen und das Firnfeld oberhalb der Marco é Rosa Hütte zu erreichen. Entspannt stolpern wir im Schmelzfirn dahin, scherzen und zweifeln zugleich, ob wir in der Hütte noch Schlafplätze bekommen. Es ist mittlerweile 17 Uhr. Egal, denken wir zuletzt, irgendwo in der Hütte können wir wohl übernachten. Wenn auch von Niemandem ausgesprochen, haben wir den Plan noch am gleichen Tag ins Tal abzusteigen gegen Mittag bereits aufgegeben.
Beim Abendessen fährt Müdigkeit in die Gliedmaßen und wir sind froh, auf der Hütte bleiben zu können. Bier, Pasta und eine gemischte Fleischplatte machen uns Freude, vermutlich auch, weil wir nach 13 Stunden und kaum Nahrung sehr, sehr hungrig sind. Es ist 8 Uhr und wir wollen ins Bett, doch der Hüttenwirt hat das Schlaflager in der extra stehenden Hütte scheinbar noch nicht vorbereitet. Um 10 Uhr liegen wir im Bett, einem Matratzenlager das für Bergsteiger mit einer Körpergröße von maximal 1,70 m ausgelegt ist. Wir schlafen gut und lange. Um 8 Uhr setzen wir uns entspannt zum Frühstück und entschließen uns ohne der Piz Palü-Überschreitung ins Tal abzusteigen, wofür wir schließlich den ganzen Tag Zeit haben werden. Um halb 10 Uhr gehen wir ausgeschlafen und satt los.
Jetzt zeigt sich zum ersten Mal die Sonne, nachdem es in der Früh nebelig und windig war – es war wohl die richtige Entscheidung gemütlich ins Tal zu gehen. Einem morgendlichen Genussspaziergang gleich, steigen wir über den Gletscher Richtung Bellavista und Fortezzagrat ab. Ich genieße den traumhaften Blick ringsum und unser Wetterglück, während wir in der Seilschaft flott dahinstapfen. Bald überholen wir vorangehende Seilschaften, leichte Kletterei am Fortezzagrat und Abseilstellen folgen. Wieder verbünden wir uns mit der Vatersohn-Seilschaft vom Vortag, verabschieden uns aber nach dem ersten Firnfeld erneut. Wir nehmen die Steigeisen zum ersten Mal wieder ab. Das nächste Firnfeld rodeln Max und ich am Hintern ab. Noch einmal heißt es Steigeisen anlegen, weil ein steiles eisiges Gletscherfeld folgt. Danach können wir die Steigeisen endgültig verstauen und es ist endlich Zeit für Speck, den wir uns bis hierher aufgespart hatten.
Ab jetzt geht es über abgeschliffene Felsen, Geröll, Wiesengelände und anschließend über den rechten Rand des Morteratschgletschers einfach und schnell voran. Um 15 Uhr stehen wir am Fuß des Gletschers. Auch die Dauer des Abstieges haben wir unterschätzt. Zwar wollten wir ursprünglich zur Diavolezza, was wohl kürzer gewesen wäre, doch auch nicht in den angegebenen 3 Stunden machbar gewesen wäre. Mit wehen Füßen, doch sonst intakt und mit guter Laune erreichen wir die Bahnstation Morteratsch nach einer perfekt gelungenen Hochtour. Jetzt heißt es nur noch Auto holen, das wir vorausschauend bei der Diavolezza geparkt hatten und heimwärts.
Fazit: Isomatte, Gaskocher und Kartusche waren umsonst im Rucksack. Der Schlafsack nicht ganz, da es im Lager der Marco é Rosa durchaus gemütlicher damit war. Die Daunenjacke hat sich bezahlt gemacht. Auch wenn nicht alles nach Plan verlief und wir biwakieren wollten, war es für uns eine sehr gelungene Tour. Wir sind der Meinung, dass wir diese sauber alpinistisch gemeistert haben – genossen haben wir sie jedenfalls. Zusammen bildeten wir ein gutes Team. Mit der Wartezeit an einem Sommerwochenende hätten wir durchaus rechnen können, doch so hat sich ein Kennenlernen der Marco é Rosa-Hütte auf der italienischen Seite des Berges ergeben. Die Kooperation und Bekanntschaft mit der vorangehenden Seilschaft war ein nettes Erlebnis an einem so bevölkerten Berge wie diesen. Die Himmelsleiter ist eine eigene Klasse für sich und lohnt die Warte- und Anreisezeit allemal. Alles in allem eine lange anspruchsvolle Tour, die an Vielseitigkeit einiges zu bieten hat.
Die Tour wurde von am 31. August 2013 begangen. Mit Dank an Wolfgang und Ansgar.